07 Diversität und Eingebundenheit
Download7.3 Neurodiversität
Ein grosses Dankeschön an die Autorin Claudia Jaggi von Neurodivers Teaching Services und für die Mitarbeit von Dr. Olga Meier-Popa vom Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik SZH in diesem Kapitel.
In der Schweiz gilt für die obligatorische Schule das Prinzip «Integration vor Separation».
Kinder und Jugendliche mit angeborenen Hirnfunktionsstörungen und daraus resultierenden Lernschwierigkeiten und/oder sozialen Auffälligkeiten werden daher in Regelklassen unterrichtet und erhalten je nach Bedürfnis sonderpädagogische (Förder-)Massnahmen. Diese Formen von Beeinträchtigungen sind meist nicht auf den ersten Blick sichtbar («hidden diseases») und sie sind auch nicht überall bekannt.
Was bedeutet neurodivergent?
Wenn die kognitiven Gehirnfunktionen eines Menschen von denjenigen abweichen, welche die Gesellschaft als innerhalb der Norm liegend (also als «normal» oder «neurotypisch») definiert, dann wird dieser Mensch als neurodivergent bezeichnet. (Im Gegensatz zum Englischen gebraucht man im Deutschen auch den Begriff neurodivers dafür.)
Was ist Neurodiversität?
Der Begriff Neurodiversität bezeichnet die unendliche Vielfalt neurokognitiver Funktionen innerhalb der menschlichen Spezies. Einfacher gesagt beschreibt Neurodiversität die Tatsache, dass alle unsere Gehirne sich zwar in Aufbau und Struktur ähneln, aber doch grundsätzlich unterschiedlich funktionieren können. Neurodiversität ist also eine biologische Tatsache.
Wenn wir über Neurodiversität im Kontext Volksschule sprechen, denken wir an Lernende mit folgenden Diagnosen, wobei in der Regel eine milde Symptomatik vorliegt, die nicht mit einer Intelligenzminderung einhergeht:
- Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS),
- Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS, vormals POS),
- Leserechtschreibstörung (LRS, auch Dyslexie oder Legasthenie),
- Rechenstörung (RS, auch Dyskalkulie),
- Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (UEMF, auch Entwicklungskoordinationsstörung, Entwicklungsdyspraxie),
- Autismus-Spektrumsstörung (ASS) oder
- Sensorische Modulationsstörung (SMS).
Mit Blick auf die Häufigkeiten von neurokognitiven Funktionsbeeinträchtigungen (siehe Box unten) ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass in einem Primarschulhaus, in dem jede Klasse einmal geführt wird, mindestens 1 Kind mit Autismus, 2 Kinder mit UEMF, 5 Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen, 5 Kinder mit Lese-, Schreib- oder kombinierter Störung und 5 Kinder mit Rechenstörung sitzen. Beeinträchtigungen mit milderer Ausprägungsform werden oft erst mit Eintritt ins Schulsystem (also in den Kindergarten) bemerkt – sei es durch die Lehrpersonen oder auch anhand von «Ablösungsschwierigkeiten» der Kinder vom Elternhaus bzw. von der bisher vertrauten Umgebung.
Auftretenshäufigkeit
ADHS: 4.4% der Kinder zwischen 3 und 17 Jahren
UEMF: 5–6% im Kindes- und Jugendalter, davon ein Drittel mit schwerer Ausprägung
ASS: 0.5–1% im Kindes- und Jugendalter
LRS: nur Lesestörung (LS) 4–7%, nur Rechtschreibstörung (RS) 2–9%, kombinierte Störung 2–6%
SMS: noch unbekannt
Quellen: Goebel et al. (2018); Blank (2020); Fricke & Lechmann (2019); Schulte-Körne (2019); von Aster (2017); Bundy et al. (2002)
Diagnose und Begrifflichkeiten
Je früher eine genaue Diagnose gestellt wird und differentialdiagnostisch andere Störungen ausgeschlossen werden können, desto besser für die zukünftige Entwicklung des betroffenen Kindes. Einige Menschen stossen sich vielleicht an Begriffen wie Dysfunktion, Störung, Krankheit, Behinderung, Handicap, Besonderheit. Wichtig ist jedoch die Haltung hinter dem Begriff. Es liegt in der Wertung und dem Umgang mit einer Diagnose, ob dem Kind das Stigma von «du bist nicht normal» im Sinne von «du gehörst nicht dazu» anhaftet – oder eben nicht. Wenn man sich dessen bewusst wird, dann verliert eine Diagnose ihre Verunsicherungs- und Einschüchterungsmacht und wandelt sich in einen konstruktiven Inhalt, mit dem man weiterarbeiten kann.
Neurologische Entwicklungsstörung oder nicht?
Nicht jedem andersartigen Verhalten liegt eine neurologische Entwicklungsstörung zugrunde! Es kann auch Zeichen einer temporären Überlastung oder einer Persönlichkeitsstörung im klinischen Sinne sein. Deshalb ist es umso wichtiger, dass eine fundierte Abklärung und Diagnostik vorliegt.
Es ist deshalb empfehlenswert, den richtigen Diagnosebegriff auch in der Familie und im schulischen Umfeld zu verwenden. So wird dem Kind signalisiert, dass man dieses neue Wort nicht wertet, sondern rein beschreibend verwendet. Kinder haben mit Beschreibungen keinerlei Mühe, aber sie merken sehr schnell, wenn man aus Unsicherheit ausweicht oder verharmlost. Gerade durch eine bemühte Verharmlosung verfestigt sich ein Stigma.
Das Dokument «Bildhaftes Erklärungsmodell für Kinder» hilft Ihnen dabei, Kindern die Diagnose einer neurologischen Störung altersgerecht verständlich zu machen. Im Dokument «Wissenswertes zu neurologischen Störungen» erhalten Sie eine ausführlichere Variante obengenannter Informationen.
Zugehörige Dokumente:
Umgang mit auffälligem Verhalten
Die Gehirne von neurodivergenten Kindern sind genauso lernbereit wie diejenigen von neurotypischen. Aber sie lernen anders und verhalten sich anders. Wenn andersartiges, oftmals herausforderndes/«störendes» Verhalten vorliegt, dann sollten sich alle Beteiligten bewusst machen, dass das betroffene Kind nicht aus böser Absicht handelt, sondern dass sein Verhalten meist Ausdruck einer Unpassung zwischen Anforderung und Leistung ist. Man darf nicht vergessen, dass neurodivergente Kinder bereits einen grossen Teil ihrer neuronalen Kapazität für die Anpassung an das jeweilige auf neurotypische Lernende genormte Schulsystem verbrauchen und nur die übriggebliebene Energie für die spezifische Arbeitsaufgabe nutzen können.
Anstatt nun beispielsweise zu denken, dass betroffene Kinder eine niedrige Frustrationstoleranz haben, sollte man sich vor Augen führen, dass sie im Gegenteil eine ziemlich hohe haben müssen, um ihre Anpassungsleistungen den ganzen Tag über aufrechterhalten zu können. Dies bedeutet aber nicht, dass man einem neurodivergenten Kind alles durchgehen lassen soll. Aufmerksame Lehrpersonen und auch aufmerksame Mitschüler:innen können unterscheiden lernen, ob ein Fehlverhalten absichtlich destruktiv oder aus Überforderung geschieht. So lernt auch das betroffene Kind mit der Zeit – und vielleicht mit therapeutischer Unterstützung –, seine Überforderung anders auszudrücken.
Jede «herausfordernde Verhaltensweise» oder Lernschwierigkeit entsteht aus der Interaktion zwischen dem Kind mit der Funktionsbeeinträchtigung und der Umwelt. Dazu gehören u.a. Schule und Elternhaus.
Girsberger [1] schreibt, ein wichtiges Stichwort im Umgang mit herausforderndem Verhalten aus Überforderung sei «Löschen» (aus dem Englischen «to extinct»). Gemeint ist damit «ein konsequentes Ignorieren des Problemverhaltens, ohne dass man sich vom Kind abwendet, das heisst, man ignoriert das Verhalten und nicht das Kind.» Diese Haltung kann man durchaus mit allen Kindern der Schulklasse besprechen und erklären, dass dies nicht einem «Übersehen von Vergehen» gleichzusetzen ist.
Am besten bestimmt man ein fixes Sprechstunden-Zeitfenster (z.B. einmal die Woche nach Schulschluss), in dem man zusammen mit dem neurodivergenten Kind dessen Verhalten reflektiert und allenfalls auch Massnahmen trifft. Die übrigen Schüler:innen wissen damit auch, dass man das störende Verhalten des neurodivergenten Kindes nicht einfach im Sand versickern lässt, was für das Gerechtigkeitsempfinden der Restklasse und damit auch für die Prävention von Mobbing (siehe weiter unten) von grosser Wichtigkeit ist. Ausserdem verhindert man damit eine für neurodivergente Kinder typische Reizüberflutung.
Wenn man sich darauf einlässt, nachzuvollziehen, wie das «andere Denken» neurodivergenter Menschen funktioniert, kann man Unterricht und Lehrmittel so anpassen, dass auch für die betroffenen Kinder ein effizientes und effektives Lernen möglich ist. Natürlich ist es nicht immer einfach, die Lernsituation anzupassen bzw. die Lernumgebung optimal zu gestalten. Aber oft sind es tatsächlich die ganz kleinen Dinge, die einen grossen Unterschied machen. Zumindest bewirkt eine individuelle Förderung beim neurodivergenten Kind, dass es selbstsicherer wird und (wieder) mehr Freude am Lernen hat.
Das Dokument «Fallbeispiele» beschreibt drei unterschiedliche Situationen und deren Lösungsansätze. Die Tipps im Dokument «Umsetzung in der Praxis» zeigen, wie man mit relativ geringem Aufwand ein Klassenzimmer so einrichten und die darin lernende Gruppe so führen kann, dass viele Barrieren ein Stück weit abgebaut werden.
Zugehörige Dokumente:
Mobbing-Prävention
«Die Regelschule ist der Ort für das gemeinsame Lernen von Schülern und Schülerinnen. Sie anerkennt, dass Schüler und Schülerinnen in einer Regelkasse sich hinsichtlich Entwicklungsstand, Lern- und Leistungsfähigkeit, sozialer und sprachlicher Herkunft oder Verhalten unterscheiden. Ein binnendifferenzierender, individualisierender und integrativer Unterricht mit entsprechenden Rahmenbedingungen unterstützt die Entwicklung und das Lernen aller Schüler und Schülerinnen und nutzt die Chancen der Gemeinschaft.» Bildungsdirektion Kanton Zürich (2007)
Der Integrationsgedanke ist für die Aufrechterhaltung eines konstruktiven Miteinanders innerhalb eines gesellschaftlichen Systems wichtig und notwendig. Dennoch ist er manchmal schwer umzusetzen. Wenn man als Lehrperson ein neurodivergentes Kind in der Klasse hat, das 50 Prozent der Aufmerksamkeit erfordert, dann stossen sowohl der integrative Unterricht als auch die emotionale Belastbarkeit aller Beteiligten an ihre Grenzen. Manchmal lässt sich an dieser Situation aber nichts ändern, und dann ist es sehr wichtig, präventiv ein potenzielles Mobbing zu verhindern. Zum Beispiel wird abgemacht, dass die Lehrperson an bestimmten Tagen weniger Rücksicht auf das neurodivergente Kind nimmt, damit der Rest der Klasse zum Zuge kommen kann. Solche Abmachungen müssen kommuniziert und für alle klar gemacht werden, um falsche Schuldzuweisungen zu vermeiden.
Damit wirkliche Akzeptanz innerhalb der Integration gelebt werden kann, darf und soll man auch über die vorhandenen Beeinträchtigungen und Begabungen und die damit verbundenen Bedürfnisse sprechen. Damit sind nicht nur diejenigen des neurodivergenten Kindes gemeint, sondern explizit auch alle anderen. Ideal ist es, wenn die Klasse zu einer Haltung gelangt im Sinne von «Max kann nicht gut sehen, darum trägt er eine Brille. Und Moritz ist Autist, darum trägt er Lärmschutz-Kopfhörer».
1 Girsberger (2016)