07 Diversität und Eingebundenheit
Download7.2 Behinderungen
Ein grosses Dankeschön an Helena Bigler von Procap für die Mitarbeit in diesem Kapitel.
«Behinderung ist eine Herausforderung des Lebens, die sich erleichtern lässt, wenn es uns gelingt zu lernen, wie wir uns auf Verschiedenheit einstellen können.» Richard von Weizsäcker
Menschen mit Behinderungen werden definiert als Menschen, die «langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gemeinschaft hindern» [1]. Demnach ist es ihnen nicht bzw. weniger gut möglich, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich aus- und weiterzubilden oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben [2]. Ob die Behinderung auf Krankheit oder Unfall beruht oder ob sie angeboren ist, ist unerheblich. Es kommt allein auf die Tatsache der Behinderung an [3].
In der Schweiz leben gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) [4] rund 1.5 Millionen bzw. 22.2 Prozent der Menschen mit Behinderungen (5% sind stark eingeschränkt, 17.2% sind eingeschränkt, aber nicht stark). Im Jahr 2017 zählte die Schweiz rund 52'000 Kinder mit einer Behinderung, dies entspricht 4.2 Prozent. Jedes fünfte dieser Kinder war in seiner Fähigkeit beeinträchtigt, so zu leben wie andere gleichaltrige Kinder. 6'992 erhielten eine Hilflosenentschädigung der IV und 1'622 lebten während des ganzen oder eines Teils des Jahres in einer spezialisierten Institution [5].
Kinder mit Behinderungen werden je nach Kanton in spezialisierte Institutionen aufgenommen oder in Regelschulklassen integriert. Obschon die Konfrontation mit anderen Kindern für Kinder mit Behinderungen schwierig sein kann, bietet ihre Integration in Regelschulen den Vorteil, dass eine differenzierte Sozialisierung gefördert wird. Sie lernen Normen, Bräuche und kulturelle Referenzen von Kindern in ihrem Alter und von Erwachsenen in ihrem Umfeld. Die Sozialkompetenzen, die sie dabei entwickeln, sind ein wichtiger Schlüssel für eine erfolgreiche Integration und Teilhabe an der Gesellschaft im Erwachsenenalter. Von 42'101 Lernenden, die im Schuljahr 2017/2018 verstärkte sonderpädagogische Massnahmen in Anspruch nahmen, waren 22'266 in Regelklassen integriert, 17'304 in Sonderklassen separiert [6].
Das Thema Behinderungen kann für allgemeinbildende Schulen auch dann relevant sein, wenn z.B. Angehörige/Bekannte der Schulmitglieder Behinderungen aufweisen. Die damit verbundene Aufgabe (z.B. der Betreuung) kann einen bedeutsamen Einflussfaktor auf die psychische Gesundheit der betreuenden Personen darstellen (vgl. Kapitel 7.7 «Young Carers»).
Verbundenheit und Resilienz
Menschen mit Behinderungen wollen als normale Menschen betrachtet und nicht über ihre Behinderungen definiert werden. Ein normaler Umgang kann Menschen mit Behinderungen ein Gefühl der Verbundenheit geben und trägt somit zu ihrer Resilienz bei.
«Behinderung» – ein Etikett?
Menschen mit Behinderungen werden häufig respektlos und als nicht «vollständige Menschen» behandelt. Zudem leiden sie oft auch darunter, «unsichtbar» zu sein. Überlegen Sie, ob es für Sie sinnvoller sein könnte, von «Menschen mit Behinderungen» zu reden anstelle von «behinderten Menschen».
Schüler:innen mit Behinderungen werden sich eher mit der Schule verbunden fühlen, wenn ihre Bedürfnisse verstanden und abgedeckt werden. Einige Schüler:innen brauchen z.B. private und sichere Räume, in denen notwendige Behandlungen durchgeführt werden können. Einige benötigen Rollstuhlzugänge zu allen Unterrichtsstunden. Für andere müssen Aktivitäten so modifiziert werden, dass sie daran teilnehmen und entsprechende Beiträge leisten können. Die Resilienz kann auch durch Kontakte zu anderen Schülerinnen/Schülern mit ähnlichen Behinderungen gefördert werden, besonders, wenn diese trotz ihrer Behinderungen grosse Leistungen vollbracht haben und ein ausgefülltes Leben führen.
Die Schule und ihr Umfeld sollten berücksichtigen, dass auch Schüler:innen mit Behinderungen ein Recht zur aktiven Teilnahme am (ausser-)schulischen Leben haben. Sie sind trotz besonderer Bedürfnisse Schulmitglieder wie alle anderen auch. Wird auf die Bedürfnisse angemessen eingegangen, stellt sich auch die Frage, welche Pflichten und Aufgaben ihnen zugeteilt werden können/sollen.
Mobbing und Belästigung
Schüler:innen mit Behinderungen sind häufig Belästigungen ausgesetzt. Bezeichnungen wie «Krüppel», «Spastiker», «Mongi» oder «Zurückgebliebener» sind nur ein Bruchteil der Etikettierungen, die für sie verwendet werden. Keiner dieser Begriffe ist akzeptabel. Allein die Benennung der Behinderungen kann bereits verletzend sein, egal ob dies beabsichtigt ist oder nicht. Schulen sind verantwortlich dafür, dass respektvolle Begriffe benutzt werden, wenn mit oder über Schüler:innen mit Behinderungen gesprochen wird (vgl. hierzu auch das MindMatters-Unterrichtsmodul «Mobbing? Nicht in unserer Schule!» und das Kapitel 8 «Mobbing»).
Nicht selten geht die Belästigung von Menschen mit Behinderungen über die verbale Form hinaus und äussert sich in Verhaltensweisen, die:
- gefährlich sind (z.B. Krücken verstecken, jemandem mit Sehschwierigkeiten Hindernisse in den Weg legen),
- verletzend sind (z.B. die Person nachahmen),
- erniedrigend sind (z.B. Schüler:innen mit Sehbehinderungen bitten, ein Bild zu beschreiben),
- einschüchternd sind (z.B. Hilfen behindern oder die betroffene Person sowie deren Freundinnen/Freunde oder Familie beleidigen).
Einige Schüler:innen mit Behinderung lassen eine beträchtliche Menge an Mobbing und Belästigungen über sich ergehen, um Teil der Gruppe sein zu können. Wiederholte Erniedrigungen fügen dem Selbstwertgefühl und dem Wohlbefinden jedoch schweren Schaden zu. Jedem Schulmitglied sollte klar sein, dass die Behinderung einer Person nur einen Teil ihrer Identität ausmacht und je nach den gegebenen Umständen mehr oder weniger wichtig für diese Person ist. Aus diesem Grund sollte auf die Verwendung von Begriffen verzichtet werden, die die Behinderung in den Vordergrund stellt.
1 Behindertenrechtskonvention BRK (2020)
2 Behindertengleichstellungsgesetz BehiG (2020)
3 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (2003)
4 BFS (2020a)
5 BFS (2020b)
6 BFS (2019)