06 Früherkennung und Frühintervention für die psychische Gesundheit
Download6.1 F+F systematisch planen und einführen
Vorbereitung und Situationsanalyse
Eine systematische Einführung von F+F beginnt mit einer Haltungsdiskussion im Kollegium und weiteren professionellen Bezugspersonen der Schüler:innen (Schulsozialarbeit, Jugendarbeit etc.). Eine Basis dazu liefert die Charta für Früherkennung und Frühintervention [1] (Download unter: www.radix.ch/ff-schulen).
Bevor konkrete Massnahmen geplant werden können, muss auch die Situation vor Ort bekannt sein: Wo drückt der Schuh und wie drückt er? Ziel einer Situationsanalyse ist es, die Bedürfnisse der Zielgruppen abzuklären und Schlüsselpersonen bei der Massnahmenplanung einzubeziehen. Für Gemeinden und Schulen hat es sich bewährt, an einem (ca. 3-stündigen) Workshop mit Schlüsselpersonen folgende Fragen in Bezug auf Kinder und Jugendliche sowie die vorhandenen Kontextfaktoren zu diskutieren und zu klären (vgl. auch www.bedarfserhebung.ch):
- Welches sind sensible Situationen, riskante Verhaltensweisen?
- Was für Angebote bestehen bereits, welche Potenziale gibt es?
- Wer ist wofür zuständig? Und wofür nicht?
- Was soll sich verändern? Welche Massnahmen sind erwünscht? Bis wann?
Ethische Grundsätze von F+F
- Krisenhafte Phasen gehören zu einem normalen Entwicklungsverlauf von Kindern und Jugendlichen. F+F berücksichtigt dieses Faktum und anerkennt das Recht von Heranwachsenden auf Anderssein und Verweigerung.
- F+F muss dem Wohl der Betroffenen und dem Prinzip der Verhältnismässigkeit verpflichtet bleiben. Gesundheit und Entwicklungschancen der gefährdeten Kinder und Jugendlichen stehen im Zentrum.
- F+F ist ein wichtiger Teilbereich der psychosozialen Prävention und darf nicht mit Krisenintervention [zum Krisenmanagement siehe Kapitel 9.4] verwechselt werden. Ebenso wenig sollte F+F zur Disziplinierung junger Menschen missbraucht werden.
Quelle: Neuenschwander & Wilhelm (2015)
F+F-Handlungsleitfaden erarbeiten
Um ein Hauptziel von F+F zu erreichen, also allen Beteiligten (Schulleitung, Lehrpersonen, Betreuungsfachpersonen, weiteres Schulpersonal sowie idealerweise auch Jugendarbeit und Vertretende aus den Gemeinden) im Hinblick auf gefährdete Kinder und Jugendliche die nötige Handlungssicherheit zu vermitteln, ist ein verbindlicher Handlungsleitfaden unumgänglich.
Folgende Faktoren sind für diese Handlungssicherheit entscheidend:
- schulinterne Entwicklung und Umsetzung des Handlungsleitfadens,
- Austausch im Kollegium inkl. pädagogische Fachpersonen, Betreuungsfachpersonen, Schulsozialarbeit und Schulpsychologischer Dienst,
- gute Kenntnisse über Warnsignale und
- eine gemeinsame Haltung im Gesamt-Team (inkl. Tagesstruktur und Hausdienst).
Bei der Erarbeitung eines F+F-Handlungsleitfadens ist zu beachten:
- Das Vorgehen sollte logisch und systematisch sein: d.h. klare Ziele, begründete Massnahmen, verständliche Botschaften.
- Nachhaltigkeit sichern (z.B. Strukturen schaffen oder anpassen).
- Gute Vernetzung sicherstellen (lokal, regional, kantonal).
- Verantwortung für Konzeption und Umsetzung von F+F-Projekten liegt bei der Schulleitung (Akzeptanz und Verbindlichkeit).
- Im Fokus von F+F-Massnahmen steht das Unterstützen und Fördern der Schüler:innen, nicht das Disziplinieren.
In einem zweiten Schritt wird der Handlungsleitfaden erstellt, der die Abläufe und Massnahmen klärt. Mehrstufige Handlungsleitfäden bieten allen Beteiligten mehr Handlungssicherheit und entlasten die einzelnen Lehrpersonen.
Beispiel für einen mehrstufigen Handlungsleitfaden [2]:
Stufe 1: Beobachten, erkennen dokumentieren, rückmelden
Stufe 2: Gespräch(e) mit Schüler:in
Stufe 3: Einbezug der Eltern/Erziehungsberechtigten
Stufe 4: Schulinterne Hilfe beanspruchen (z.B. Schulsozialarbeit)
Stufe 5: Schulexternes Hilfsnetzwerk einbeziehen (z.B. Fachstellen)
Stufe 6: Gefährdungsmeldung, schulrechtliche und Sonderschulmassnahmen
Erfolgsfaktoren für einen nachhaltig wirksamen Leitfaden
- Die Schulleitung ist prominent in die Entwicklung und Umsetzung des Handlungsleitfadens für das Gesamtkollegium eingebunden.
- Der Handlungsleitfaden wird im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen für das gesamte Kollegium inkl. pädagogische Fachpersonen und administratives Personal (Schulwart) implementiert.
- Strukturen und Prozesse für F+F werden regelmässig beurteilt und bei Bedarf angepasst.
- Das frühzeitige Beiziehen von Fachpersonen/Fachstellen schafft Entlastung.
Quelle: Neuenschwander & Wilhelm (2015)
Zu diesem Stufenmodell hat die Fachstelle «Akzent Prävention und Suchttherapie Luzern» diverse, sehr hilfreiche Instrumente entwickelt, wie z.B.:
- Vorlage für Beobachtung
- Checkliste «Erkennen»
- Auffälligkeiten/Signale
- Checklisten und Gesprächsprotokolle z.B. für Elterngespräche
Download unter: www.akzent-luzern.ch/sensor-schule/downloads (eingesehen am 06.07.2021)
Anschliessend wird der Handlungsleitfaden im Schulalltag verankert. Regelmässige Gefässe für den Austausch in einem rechtlich geklärten Rahmen mit Schlüsselpersonen und -stellen (resp. Vertretung z.B. der Lehrpersonen) stellen sicher, dass Auffälligkeiten frühzeitig besprochen werden, neue Mitarbeitende systematisch eingeführt werden und F+F ein integrativer Bestandteil des Schulalltags wird.
Beachten Sie folgende Aspekte für ein gutes Schnittstellenmanagement:
- Klärung von Ziel und Zweck der Kooperation (inkl. Haltung, Werte),
- Festlegen von Zuständigkeiten und Abläufen,
- Verbindlichkeiten schaffen: regelmässige Termine, Traktanden, Protokolle,
- Sicherstellen personeller Kontinuität (inkl. gesicherter finanzieller Ressourcen, Pflichtenheft/Stellenbeschrieb),
- gute interne und externe Information und Kommunikation sicherstellen.
Hier endet die F+F in der Schule. Diagnosestellung, Behandlung, Therapie, schulrechtliche und juristische Massnahmen sind Sache der zuständigen Fachstellen und Behörden.
Materialien, Tools, Infos zu F+F
Professionalität bei der Projektumsetzung ist bei F+F entscheidend. Aber das Rad braucht nicht neu erfunden zu werden. Ihnen stehen eine breite fachliche Unterstützung und vielfältige, für F+F erstellte Grundlagen und Materialien zur Verfügung. Eine grosse Auswahl finden Sie im Kapitel 6.2.
Bei massiver Vernachlässigung, Verdacht auf körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt muss sofort reagiert werden. Die Lehrpersonen sind gesetzlich verpflichtet, die Schulleitung zu informieren, die wiederum die Gefährdung melden muss. Die Eltern sind einzubeziehen, ausser bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Unterstützend sollte das Gespräch mit den Schulpsychologischen Diensten und Schulsozialarbeitenden gesucht werden (vgl. Kapitel 5.2 Kindesschutz und gesetzliche Meldepflicht). Informationen stehen auch unter www.kescha.ch und www.kokes.ch zur Verfügung. Zu den Rechtsgrundlagen für Schulen und Gemeinden finden Sie eine Publikation des Bundesamts für Gesundheit unter www.radix.ch/ff-schulen.
1 Die nationale Charta wird von folgenden Organisationen, Konferenzen und Kommissionen getragen: Avenir Social, Fachverband Sucht, Groupement romand d‘études des addictions (GREA), Infodrog, RADIX, Sucht Schweiz, Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin (SSAM), Ticino Addiction, Bundesamt für Gesundheit (BAG), Konferenz der Kantonalen Beauftragten für Suchtfragen (KKBS), Städtische Konferenz der Beauftragten für Suchtfragen (SKBS), Vereinigung der kantonalen Beauftragten für Gesundheitsförderung in der Schweiz (VBGF). Aktualisiert 2016.
2 Neuenschwander & Wilhelm (2015)