06 Bewegter Unterricht
Download6.1 Bewegtes Lernen
Bewegung und aktives Erkunden sind Grundformen kindlichen Lernens. Im Wortsinn wird die Welt begriffen: Vom Greifen gelangt das Kind zum Begreifen und zum Begriff. Über die Sinne und die Bewegung gelingt es ihm nach und nach, sich seine Wirklichkeit anzueignen und aufzubauen. Für Kinder ist ihr Körper das Instrument, um die Welt zu entdecken und sie zu verstehen. Je jünger sie sind, desto wichtiger ist es für sie, sich aktiv mit sich selbst und ihrer Umwelt auseinanderzusetzen.
Im Schulalltag sind das Sehen, Hören, Sitzen und Schreiben wichtig. Dazu müssen die körperlichen Voraussetzungen (-> Körperliche Voraussetzungen für das Sitzen) gegeben sein. Um eine aufrechte Körperhaltung einzunehmen, braucht es zum Beispiel genügend Körperspannung und ein funktionierendes Gleichgewichtssystem. Viele dieser Voraussetzungen können sich nur entwickeln, wenn Kinder von Geburt an vielseitige Bewegungsmöglichkeiten haben.
Der Bewegungsdrang der Kinder und ihre Aufmerksamkeit richten sich nicht nach dem 45-Minuten-Rhythmus der Schule. Die Zeitspanne für konzentriertes Arbeiten ist für Kinder und Jugendliche begrenzt. Auch deshalb ist bewegtes Lernen wichtig.
Als Richtzeiten für die Konzentrationsfähigkeit gelten:
- Bis 15 Minuten bei 5- bis 7-Jährigen
- Bis 20 Minuten bei 7- bis 10-Jährigen
- Bis 25 Minuten bei 10- bis 12-Jährigen
- 30 Minuten bei 12- bis 16-Jährigen
- 30 – 45 Minuten bei Erwachsenen
Bewegter Unterricht unterstützt das Lernen auf unterschiedliche Art und Weise:
- Der Unterricht erhält eine natürliche Rhythmisierung.
- Kinder, die viele Möglichkeiten zu körperlicher Aktivität haben, sind aufmerksamer und Bewegung motiviert und steigert die Freude und das Wohlbefinden der Kinder im Unterricht.
- Bewegung führt zur Verbesserung der Sauerstoff- und Zuckerversorgung des Gehirns. Die Informationsverarbeitung wird optimiert und die Leistungsfähigkeit gesteigert.
- Multisensorisches Lernen: Das Lernen mit Hilfe des ganzen Körpers schafft eine sichere Basis für logisches Denken. Bewegungshandlungen werden genutzt, um ein Lernthema zu erschliessen, etwas zu erkennen, zu erfahren, leibhaftig zu spüren und evtl. auch besser zu verstehen.
- Praktische, problem- und erlebnisorientierte Ausrichtung (ganzheitliche Unterrichtsinszenierung) zeigt positive Auswirkungen auf die Lernprozesse.
- Bewegung hilft, einseitige körperliche Beanspruchungen durch zu häufige statische Sitzhaltungen entgegenzuwirken. Es finden ein Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung statt.
6.1.1 Voraussetzung für das Sitzen
Bevor du den kommenden Abschnitt zur «körperlichen Voraussetzung für das Sitzen» liest, mache bitte Folgendes:
- Setz dich aufrecht hin, ohne dich an der Stuhllehne oder dem Tisch abzustützen.
- Stell deine Füsse flach auf den Boden.
- Lies nun den folgenden Text in dieser Sitzposition.
Sitzen ist eine körperliche Leistung. Eine starke Körperachse bzw. eine gute Rumpfstabilität ermöglicht es, ohne Ermüdung zu sitzen sowie Arme und Hände frei zu bewegen. Dies erfordert neben einer starken Haltemuskulatur auch eine ausreichende Körperspannung. Das Gleichgewichtssystem und die Eigenwahrnehmung bzw. die kinästhetische und taktile Wahrnehmung sind für das aufrechte Sitzen ebenfalls wichtig (-> Entwicklung der Wahrnehmung).
Die Impulse des Gleichgewichtssystems werden im Hirnstamm verarbeitet. Diese informieren die Muskeln, wann und in welchem Ausmass sie sich zusammenziehen müssen. Wenn das Gleichgewichtssystem schlecht funktioniert, ist die Muskelspannung niedrig und man ermüdet schnell.
Das aufrechte Sitzen gelingt nicht automatisch. Kinder müssen viel Aufmerksamkeit darauf verwenden. Dadurch fehlt ihnen Energie, um sich auf den Schulstoff zu konzentrieren. Deshalb kann es kontraproduktiv sein, Kinder dazu aufzufordern, aufrecht zu sitzen. Besser ist folgende Strategie:
- Entlastung im Moment: Kind löst beispielsweise eine Aufgabe liegend. --> Es kann sich möglichst gut auf den Schulstoff konzentrieren.
- Längerfristige Entwicklungsförderung: Fehlende körperliche Voraussetzungen für das aufrechte Sitzen werden gezielt entwickelt. --> Anregung des Gleichgewichtssystems durch. Balancieren, Schaukeln, Rollen, Drehen, variantenreiches Sitzen, ...
Tastsinn und Eigenwahrnehmung unterstützen das ruhige Sitzen. Gründe für unruhiges Sitzen können daher nebst einem ungestillten Bewegungsbedürfnis auch eine ungenügende Eigenwahrnehmung oder eine taktile Über- oder Unterempfindlichkeit sein. Die kinästhetische Wahrnehmung hilft, die Lage der einzelnen Körperteile, deren Veränderung sowie die Muskelspannung zu erkennen. Bei Schwierigkeiten in der kinästhetischen Wahrnehmung oder auch bei taktiler Unterempfindlichkeit sind die Kinder ständig in Bewegung, damit sie sich selbst wahrnehmen können. Kinder mit einer taktilen Überempfindlichkeit versuchen, den ständigen und störenden Reizen durch Bewegung auszuweichen. Dieses Verhalten lässt sich kognitiv kaum kontrollieren und deshalb ist es nicht sinnvoll, die Kinder dazu aufzufordern, still zu sitzen.
Momentane Entlastungsmöglichkeiten:
- Andere Sitzpositionen einnehmen, die Kinder wählen lassen (z.B. Füsse unter dem Gesäss).
- Am Boden liegen (Bodenkontakt verhilft zur Eigenwahrnehmung).
- Dem Kind einen Gegenstand zum Drücken und Kneten in die Hände geben, um sein Bewegungsbedürfnis zu befriedigen.
- Regelmässige kurze, intensive Bewegungspausen anbieten.
- Körperteile beschweren (Sandsäckli) --> Körperteile wahrnehmen, spüren, lokalisieren, erkennen.
Langfristige Förderung der Eigenwahrnehmung:
- Gleichgewicht trainieren (Schaukeln, Rollen, Drehen…).
- Enge Platzverhältnisse erleben (Höhlen, Tische etc.).
- Mit dem ganzen Körper viel den Boden berühren.
- Massagen mit verschiedenen Materialien.
- Berührungen lokalisieren und erkennen.
- Spiele mit Druck und Zug --> dabei wahrnehmen, ob es viel oder wenig Kraft braucht (sich gegenseitig mit einem Seil ziehen).
- Übungen mit langsamen Bewegungen, die eine genaue Bewegungskontrolle erfordern (vorgegebene Körperhaltungen einnehmen, Bewegungen nachmachen).
Du bist nun während einiger Zeit bewusst aufrecht gesessen. Wie hast du das erlebt?
- Hattest du irgendwann den Impuls, dich irgendwo abzustützen?
- Konntest du deine Füsse stillhalten?
- Konntest du der Lektüre während der ganzen Zeit aufmerksam folgen?
Das aufrechte Sitzen ist eine anstrengende körperliche Leistung. Nach einer gewissen Zeit müssen wir ihm deshalb zunehmend mehr Aufmerksamkeit schenken. Das verringert die Energie, sich auf den Text oder den Schulstoff zu konzentrieren.
6.1.2 Körperliche Voraussetzung für das Schreiben
Schreiben ist zu Beginn eine feinmotorische Herausforderung. Mit Übung werden die schreibenden Bewegungen allmählich automatisiert. Dann können sich die Schreibenden besser auf den Inhalt konzentrieren.
Das Schreiben setzt unter anderem eine starke Körperachse bzw. eine gute Rumpfstabilität, Beweglichkeit und Koordination der Hände und des Unterarms, Kraftanpassung, aber auch eine gute Hand-Augen-Koordination voraus. Ausserdem erfordert es Formvorstellung, Raumorientierung, Wortschatz und Erinnerungsvermögen.
Beim Schreiben ist die korrekte sensorische Integration von grosser Bedeutung (d.h. die Verarbeitung verschiedener Wahrnehmungskanäle im Hirn zur Steuerung des Körpers), insbesondere die Verknüpfung von Informationen des Sehsinns, des Gleichgewichtssystems sowie der Eigenwahrnehmung.
Kinder mit Schwierigkeiten in der sensorischen Integration oder im Gleichgewichtssystem haben oft Mühe, einem bewegten Gegenstand mit den Augen zu folgen. Es gelingt ihnen kaum, ihre Augen von einem bestimmen Punkt auf einen anderen zu richten. Dies zeigt sich zum Beispiel beim Ballspielen, Ziehen einer Linie, Lesen einer Zeile etc. Hier können Fachpersonen aus der Psychomotorik helfen.
Die selektive Förderung der sensorischen Integration kann nicht mit gezielten Übungen herbeigeführt werden, sondern wird durch die beständige Auseinandersetzung mit dem Körper und mit der Umwelt entwickelt. --> Spielen, das den gesamten Körper beansprucht, und Bewegungsaktivitäten sind dafür gut geeignet!
Leit- und Reflexionsfragen
- Wenn die Kinder sitzen (z.B. im Kreis), welche Sitzmöglichkeiten können die Kinder nutzen bzw. bietest du ihnen an?
- Gibst du Regeln bezüglich des Sitzens vor (z.B. Füsse auf dem Boden etc.)?
- Was machst du mit Kindern, die nicht stillsitzen können?