03 Bewegungsförderung
Download3.4 Elementare Bewegungsbedürfnisse
Kinder sind grundsätzlich offen für Neues und bewegen sich gerne. Sie haben andere Bewegungsbedürfnisse als Erwachsene. Diese und ihren Bewegungsdrang zeigen sie, wenn sie sich in einer anregenden Umwelt frei bewegen können. Es geht Kindern nicht darum, eine Grundform der Bewegung (z.B. das Klettern oder Werfen) zu beherrschen. Sie möchten vielmehr ein elementares inneres Bewegungsbedürfnis stillen, wie das nachfolgende Beispiel aufzeigt: Andrea liebt es, in die Höhe zu klettern und Ausschau zu halten. Hoch oben hat sie eine andere Perspektive, einen anderen Blick auf die Umgebung. Dabei übt Andrea sich ganz natürlich im Klettern.
Durch selbstbestimmtes entdeckendes Lernen eignen sich Kinder neue Fähigkeiten und Fertigkeiten an. Sie lieben es zudem, zu experimentieren, Neues zu entdecken und auch ihre Grenzen auszutesten (-> Entwicklung des Selbst). Das Angebot geeigneter Aktivitäten, ermöglicht den Kindern, ihre elementaren Bewegungsbedürfnisse auszuleben. Diese Angebote können selbst-, mit- oder auch fremdbestimmt sein. Ausserdem brauchen die Kinder sichere Räume, Zeit und Freiraum für das Ausprobieren und Erleben. Die Primärbedürfnisse nach Nickel (1990) und die elementaren Bewegungsbedürfnisse nach Lienert, Sägesser und Spiess (2013) werden nachfolgend zusammengefasst und um ein weiteres Bedürfnis erweitert: sich entspannen und zurückziehen.
Das Purzelbaum Angebot geht bewusst auch auf dieses Bedürfnis ein. Nebst Bewegung brauchen Kinder Entspannung und Erholung, damit sie unter anderem die gewonnen Sinnes- und Bewegungseindrücke verarbeiten können. Dann sind sie auch wieder für Bewegung und die damit verbundenen Erfahrungen bereit.

Spielerisches Laufen, Davonlaufen und Schnelllaufen
Gehören zu den natürlichen Bewegungsarten der Kinder. Das Kind erlebt sich beim Davonlaufen und Schnelllaufen als stark. Durch das Dosieren der Laufgeschwindigkeit kann es darüber bestimmen, ob es gerade noch entkommt oder eingeholt wird.

Hochspringen und von oben hinabspringen
Die schnell erreichte hohe Geschwindigkeit, das rasche Abbremsen und mitunter auch die gewählte Höhe lösen ein prickelndes Körpergefühl aus. Vor allem beim Hinabspringen von oben erleben Kinder eine andere Raumwahrnehmung. Sie lernen, mit Risiken und Angst umzugehen (sich z.B. an Höhen heranzutasten), und werden dadurch mutiger.

Schaukeln und weit durch den Raum schwingen
Sind Bewegungserfahrungen, die intensive Empfindungen auslösen und die Sinnesorgane, vor allem das Gleichgewichtssystem, anregen. Die Empfindungen werden durch das schnelle Wechselspiel vom Raumdurchgleiten und von der Bewegungsumkehr ausgelöst. Dabei wird der Raum aus einer anderen Perspektive erlebt und wahrgenommen. Die Kinder können ein Gefühl der Freiheit und Ausgelassenheit erleben.

Höhen erklettern und Ausschau halten
Durch den Höhengewinn wandelt sich die Perspektive, das Auge kann grössere Räume wahrnehmen und die dreidimensionale Wahrnehmung wird gestärkt. Das Hinaufklettern, wenn es aus eigenem Antrieb geschieht, ist eine Herausforderung und stärkt das Selbstbewusstsein.
Das Erklettern eines höhergelegenen Platzes kann das Gefühl des Herausgehobenseins, der Überlegenheit oder auch der Macht wecken. In der Regel können Kinder ihre Fähigkeiten beim Klettern gut einschätzen und kehren um, wenn sie überfordert sind.

Den Taumel des Rollens und Drehens erleben
Rollen und Drehen führen zu einer alltagsfremden Körper- und Raumwahrnehmung. Das Schwindelgefühl und auch die mögliche Orientierungslosigkeit lösen einen Moment der Ungewissheit aus, ob alles gut geht und man wieder sicher ankommt.
Der Taumel, der den Kindern Spass macht, hat einen günsti-gen Stabilisierungseffekt auf das Gleichgewichtssystem.

Konzentriert und erfolgreich im Gleichgewicht sein
Das Bewältigen von Gleichgewichtssituationen ist eine Konzentrationsaufgabe und erfordert eine vielfältige geistige Auseinandersetzung mit der Situation. Beim Überqueren eines schmalen Stegs muss jeder Schritt wahrgenommen, beurteilt, geplant und durchgeführt werden. Die Auseinandersetzung mit der Herausforderung («schaff ich es?») erfolgt bei jedem weiteren Schritt.
Die Gleichgewichtserhaltung stellt ein schnelles Wechselspiel von Planung, Entscheidung und Erfolgswahrnehmung dar.

Riskante Situationen suchen und sie mit Herzklopfen meistern
Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung der Persön-lichkeit und der Risikokompetenz auch die Gelegenheit, an ihre Grenzen zu gehen, sie zu erfahren und auszuloten. Das Meistern von riskanten Situationen gibt ihnen Selbstvertrau-en, sie lernen ihre Fähigkeiten einzuschätzen und mit Er-folgs- und Misserfolgserlebnissen umzugehen.
In Risikosituationen ist es wichtig, den Kinder Zeit zu lassen, um die Aufgabe und das eigene Können richtig einzuschät-zen und einen entsprechenden Handlungsplan zu finden. Kinder sollen nicht von aussen zu Entscheidungen gedrängt werden, sondern Risikosituationen freiwillig eingehen dürfen.

Bewegungskunststücke lernen und vorführen
Kunststücke vorzuführen, animiert Kinder zum Üben und lässt sie Lernfortschritte wahrnehmen. Kinder lieben es, Kunststücke zu erlernen. Das Bedürfnis muss vom Kind selbst kommen und soll eine Differenzierung der Selbstwahrnehmung und eine Stärkung des Selbstvertrauens zur Folge haben. Deshalb soll die Vorführung nicht im Zentrum stehen und auf freiwilliger Basis geschehen. Nicht alle Kinder zeigen ihr Können gerne.

Sich bis zur wohltuenden Erschöpfung anstrengen
Durch Anstrengung können Kinder ihren Körper besonders intensiv und wohltuend «anders» spüren. Können Kinder selbst bestimmen oder erhalten sie Aufgaben mit hohem Aufforderungscharakter, hören sie oft erst auf, wenn sie völlig erschöpft sind. Kinder erholen sich aber rasch und bewegen sich erneut intensiv, um dieses wohltuende Gefühl wieder zu erleben.

Gleiten und Rutschen
Unterscheiden sich stark vom Gehen, Laufen und Springen und ermöglichen eine ganz andere Fortbewegungserfahrung. Die Faszination des Rutschens und Gleitens liegt einerseits in der Bewältigung der Gleichgewichtsunsicherheit und andererseits in der mühelosen und schnellen Fortbewegung. Kinder nutzen jede Gelegenheit zum Rutschen und Gleiten in unterschiedlichen Körperhaltungen.

An und mit Sportgeräten intensiv spielen
Dies ermöglicht vielfältige Bewegungserfahrungen. Kinder begegnen den Geräten unvoreingenommen und entdecken sie auf spielerische Art und Weise. So werden Barren zu Piratenschiffen und Kästen zu Häusern. Durch offene Bewegungsaufgaben werden die Kinder in ihrer Kreativität, in ihrer Entdeckungsfreude und Entwicklung unterstützt.

Sich von fliegenden und rollenden Bällen faszinieren lassen
Bereits Babys und Kleinkinder versuchen, rollende und fliegende Gegenstände zu ergreifen. Allerdings sollten Kinder nicht zu früh mit hohen Erwartungen im Bereich des Werfens und Fangens überfordert werden, denn Fangen und Werfen erfordern eine hohe Konzentration, einen intensiven Prozess der Wahrnehmung und der Augen-Hand-Koordination. Kinder lernen allmählich, Flugbahnen einzuschätzen und fliegende Gegenstände zu fangen.

Sich im Rhythmus bewegen
Im Takt zu wippen, zu tanzen, zu hüpfen, zu laufen und zu springen, regt Kinder an. Muster am Boden können sie dazu auffordern, rhythmisch zu springen. Kinder geben dabei dem inneren Bedürfnis nach Ordnung Ausdruck. Musik unterstützt das rhythmische Bewegen und kann animierend oder beruhigend wirken.

Mit, am und im Wasser spielen
Wasser vermittelt Kindern eine vielfältige Sinneserfahrung. Durch das Spielen mit und am Wasser (Wasser stauen, spritzen, umfüllen, etc.) machen sie wichtige taktile-kinästhetische Erfahrungen zu typischen Eigenschaften wie «nass», «kalt», «warm», «schwer» oder «leicht» und entdecken darüber hinaus Materialeigenschaften (z.B. Moos dichtet ab). Durch die Bewegung im Wasser erfahren sie physikalische Gesetze wie Auftrieb und Widerstand am eigenen Körper. Beim Schweben, Gleiten, Tauchen und Antreiben erleben sie den Körper unter veränderter Schwerkraft.

Raufen, Kämpfen, Kräftemessen
Beim Raufen, Kämpfen und Kräftemessen erleben die Kinder den Umgang mit der Emotionsregulation (Wut, Streit, Aggressionen), einen Spannungsabbau und ihre persönlichen Grenzen. Sie erfahren viel über sich selbst, wenn sie sich stark und überlegen oder schwach und unterlegen fühlen und mit Erfolg und Misserfolg konfrontiert werden. Dadurch lernen sie, mit solchen Situationen umzugehen. Sie erfahren, was sie mit ihren Kräften bewirken können (z.B. «ich kann dich ziehen»), und erkennen ihre eigenen Stärken und Schwächen. Beim Kämpfen können sie zudem ihr Bedürfnis nach Körperkontakt ausleben.

In eine Nische kriechen und sich verstecken
Auszuprobieren, wie der eigene oder mehrere Körper in einem Versteck Platz finden, ist aufregend. Mut braucht es, sich allein in einer Nische zu verstecken oder sich zurückzuziehen. Auf das Gefundenwerden zu warten und die Suchen-den zu beobachten, ohne dabei gesehen zu werden, erzeugt viel Spannung, die das Kind aushalten muss. Stillsein, ohne sich zu verraten, braucht Geduld und Impulskontrolle. Nebst dem Umgang mit verschiedenen Emotionen (Mut, Angst etc.) lernen Kinder, sich auch selbstständig in einer Umgebung zu bewegen und Räume anders wahrzunehmen.

Sich entspannen und zurückziehen
Auf jede Anspannung und Anstrengung folgt ein Moment der Entspannung und Erholung. Für eine gesunde Entwicklung sind Ruhe, Entspannung und Erholung sehr wichtig. Kinder brauchen dazu Rückzugsorte, an denen sie sich vom Geleisteten erholen und zu Ruhe kommen können. Sie verarbeiten die gesammelten Eindrücke und entwickeln dadurch ihr Bewusstsein.
Leit- und Reflexionsfragen
- Wo leben die Kinder die oben aufgeführten und erweiterten elementaren Bewegungsbedürfnisse im Betreuungsalltag aus und welche Materialien sind dafür vorhanden? Welche Materialien fehlen noch? -> Raster Umgestaltung
- Wie oft erhalten die Kinder im Betreuungsalltag Gelegenheit, die erweiterten elementaren Bewegungsbedürfnisse zu erfahren? (z.B. täglich, oft, gelegentlich, selten oder nie?)
- Leben die Kinder die elementaren Bewegungsbedürfnisse vielseitig aus? Wenn nein, wie können die Kinder zum vielseitigen Erleben angeregt werden?
- Braucht es einen Input, damit die Kinder wieder andere elementare Bewegungsbedürfnisse entdecken oder diese vermehrt ausleben? Wenn ja, wie gehst du vor?